Verantwortliche in Unternehmen stehen oft unter doppeltem Druck. Einerseits sollen sie ihre Firma agiler machen – während grundlegende Innovationen durch etablierte Hierarchien verzögert werden. Andererseits steigt in den Teams der Anspruch auf Autonomie. Dabei nimmt der Wettbewerbsdruck stetig zu. Viele Organisationen leiden unter trägen Entscheidungsprozessen und mangelnder Eigenverantwortung.
W.L. Gore & Associates, das Unternehmen hinter der Outdoor-Bekleidungsmarke Gore-Tex, zeigt seit Jahrzehnten, dass es auch anders geht. Der amerikanische Spezialkunststoff-Hersteller führt über 12.000 Mitarbeiter ohne klassische Hierarchie – und erzielt dabei sehr überzeugende Ergebnisse. Für Executives, die ihre Organisation zukunftsfähig ausrichten wollen, bietet dieses Modell interessante Impulse.
Prinzipien statt Strukturen
Gore folgt mehreren Grundprinzipien, die alle Prozesse und Entscheidungen prägen. So gibt das Freedom-Prinzip Mitarbeitern die Freiheit, eigenverantwortlich zu handeln – von der Projektwahl über Arbeitszeiten bis hin zu Innovationsinitiativen. Diese Eigenständigkeit ist allerdings an klare Verantwortlichkeiten gekoppelt: Wer entscheidet, trägt auch die Folgen.
Fairness zeigt sich im respektvollen Umgang und in transparenten Entscheidungen. Jede Stimme zählt – unabhängig von Rolle oder Erfahrung. Das gilt auch für die Vergütung: Peer-Bewertungen ersetzen hierarchische Beurteilungen. Commitment entsteht durch freiwillige Übernahme von Verantwortung. Da niemand Anweisungen geben kann, resultieren Zusagen aus persönlicher Überzeugung – nicht aus Pflichtgefühl.
Das Waterline-Prinzip steuert den Umgang mit Risiken. Entscheidungen, die oberhalb der „Wasserlinie“ liegen, können ohne Abstimmung getroffen werden, da sie das Unternehmen nicht gefährden. Kritische Vorhaben unterhalb der Wasserlinie erfordern Rücksprache mit Kollegen. Diese einfache Regel stärkt die Entscheidungskompetenz und schafft Risikobewusstsein im gesamten Unternehmen.
Führung durch Kompetenz, nicht durch Titel
Bei Gore gibt es keine disziplinarischen Vorgesetzten. Stattdessen begleitet ein persönlicher Sponsor jeden Mitarbeiter – als Coach, Mentor und Feedbackgeber. Diese Beziehung basiert auf Freiwilligkeit und Vertrauen, nicht auf Zuweisung durch die Organisation.
Führung entsteht durch Followership. Wer führt, muss andere überzeugen – mit Kompetenz, starken Ergebnissen und Integrität. Nur wer in der Lage ist, andere zu inspirieren und komplexe Herausforderungen zu lösen, wird als Führungspersönlichkeit akzeptiert. So übernimmt nicht die lauteste, sondern die wirksamste Person Verantwortung.
Die „No Jerks“-Regel verstärkt diesen Effekt: Wer egoistisch handelt oder andere schlecht behandelt, wird von niemandem unterstützt – und verliert jede informelle Autorität. Führung bei Gore basiert auf Einfluss und Überzeugungskraft, nicht auf Kontrolle. Das setzt hohe Kommunikations- und Fachkompetenz voraus, schafft aber ein Umfeld, in dem Engagement und Qualität wachsen.
Kundennähe durch dezentrale Einheiten
Gore strukturiert sich in autonome Einheiten mit maximal 200 Mitarbeitern. So bleibt direkte Kommunikation möglich, und lokale Teams können flexibel auf Marktanforderungen reagieren. Das Prinzip „Fitness for Use“ steht im Zentrum: Produkte müssen exakt zum Anwendungszweck passen – ohne Kompromisse.
Diese Kundenzentrierung befähigt die Beschäftigten, Produkte zu verbessern oder zurückzurufen, wenn Standards nicht erfüllt sind – unabhängig von zentralen Freigaben. Entwickler stehen im direkten Kontakt mit Endkunden, Produktionsmitarbeiter sprechen mit Händlern. Marktfeedback fließt kontinuierlich in Entscheidungen ein.
Die dezentrale Verantwortung wird durch globale Standards flankiert. Qualität, Sicherheit und Werte sind verbindlich, während operative Entscheidungen lokal getroffen werden. Diese Balance erlaubt Skaleneffekte bei gleichzeitiger Reaktionsfähigkeit.
Innovation durch strukturierte Autonomie
Ein “Real-Win-Worth-Framework” steuert Innovationsprozesse ohne Top-down-Vorgaben. Projektteams prüfen eigenständig, ob eine Marktchance realistisch ist, ob Gore sie nutzen kann – und ob sich das lohnt. Diese Bewertung basiert auf transparent zugänglichen Daten zu Markt, Technologie und Wettbewerb.
Teams entscheiden selbst, ob sie Projekte fortführen, anpassen oder beenden. Das schafft Agilität, insbesondere in dynamischen Märkten. Das Gore Business System liefert den strukturellen Rahmen dafür: Es definiert Prozesse und Erfolgskennzahlen, ohne Mikromanagement zu betreiben.
Strategische Ziele werden klar kommuniziert, die Umsetzung liegt bei den Teams – mit vollem Handlungsspielraum. KPIs dienen als Orientierung, nicht als Kontrollinstrument. Teams steuern sich über eigene Analysen und Maßnahmen, externe Eingriffe bleiben die Ausnahme.
Leistung sichtbar machen – ohne Machtspiele
Leistung wird bei Gore durch “Peer Accountability” gesichert: Kolleginnen und Kollegen, Projektpartner und interne Kunden bewerten Beiträge aus fachlicher und kultureller Perspektive. Diese 360-Grad-Sicht soll politische Manöver und Einseitigkeit verhindern. Führungskräfte agieren als Moderatoren: Sie bündeln Feedback, begleiten Entwicklungsprozesse und sorgen für Klarheit.
Erfolge werden offen geteilt, Misserfolge dienen als Lernquellen. Transparenz schafft Verantwortung: Wer Auswirkungen seines Handelns erkennt, verhält sich bewusster. Durch die Kombination aus offener Kommunikation und peer-basierten Entscheidungen entsteht ein Klima, in dem Leistung zählt – nicht Status oder Netzwerke. Bevorzugung und Machtspiele verlieren an Bedeutung.
Drei Fragen prägen Gores Führungsverständnis – und können auch in traditionellen Organisationen Wirkung entfalten: Höre ich aktiv zu? Behandle ich alle mit Respekt? Ist für alle klar, was Erfolg bedeutet?
Kulturwandel braucht Zeit und Konsequenz
Der Wandel zu mehr Eigenverantwortung sollte schrittweise erfolgen. Pilotprojekte in ausgewählten Bereichen ermöglichen erste Erfahrungen mit hierarchiefreier Zusammenarbeit. Aus erfolgreichen Experimenten entstehen dann übertragbare Modelle, die die Rolle der Führung verändern: vom Kontrolleur zum Möglichmacher. Schließlich wächst Einfluss durch Vertrauen – nicht durch Anweisung.
Wichtig: Jeder Kulturwandel braucht Zeit, Konsequenz und Lernbereitschaft. Alte Muster lassen sich nicht über Nacht ersetzen. Doch wer bereit ist, „kontrollierten Freiraum“ statt Kontrolle zu praktizieren, gewinnt Engagement, Innovationskraft und erzielt bessere Ergebnisse.
Der Gore-Tex-Hersteller zeigt: Eine Arbeitsweise, die auf Freiheit und Verantwortung setzt, stärkt nicht nur die Beschäftigten – sie kann zugleich robuste unternehmerische Ergebnisse schaffen. Für Unternehmenslenker ergibt sich daraus ein klarer Auftrag: Überprüfen Sie die Führungspraktiken Ihrer Organisation, fördern Sie Experimentierräume und nutzen Sie Vertrauen als strategisches Werkzeug!